Staatsschulden pro Kopf in Deutschland

Über einer Autobahnbrücke hing mal ein Banner. "Sie stehen nicht im Stau, Sie SIND der Stau !"

Ich weiß nicht mehr, wo das war und schon gar nicht, wer das geschrieben hat. Aber für mich einfaches Gemüt hat dieser Spruch schon etwas philosophisches. Er schließt alles menschliche Verhalten und dessen Unzulänglichkeit mit ein, und animiert den Autofahrer freundlich zum Nachdenken.

"Sie stehen nicht im Stau, Sie SIND der Stau !"

Anlaß für diese Webseite gaben die Äußerungen eines älteren, in der Öffentlichkeit sehr geschätzten Politikers in einer Talk-Show im März 2019, der den jungen Menschen, die Freitags gegen Klimaerwärmung demonstrierten, Scheinheiligkeit, Opportunismus, Unwissen, Naivität und noch ein paar weitere nicht sehr schmeichelhafte Eigenschaften unterstellte. Ich saß fassungslos vor dem Fernseher und fühlte mich schlagartig in die sechziger Jahre versetzt, wo ebenfalls alte Männer aufgrund ihrer Arroganz und Selbstgefälligkeit die Balken im eigenen Auge noch nicht einmal wahrnahmen, geschweige denn leugnen konnten. Meine damalige Hoffnung, daß sich die Welt ändern würde, "wenn wir mal groß wären", hat sich bei diesem Interview abrupt zerschlagen, denn jetzt bin ich so ein alter Mann, und meine Generation hätte was lernen können. Hat sie aber nicht und die Welt hat sich nicht geändert. Da legen junge Menschen - vollkommen zu Recht - den Finger in eine Wunde, weisen auf Versäumnisse ihrer (Groß)Elterngeneration hin, und einem aus dieser Generation, die die Versäumnisse zu verantworten hat, kommenden Politiker fällt nichts Besseres ein, als diese jungen Menschen zu diffamieren und lächerlich zu machen, statt sich mit ihrem Vorwurf mal inhaltlich auseinanderzusetzen. Das ist allerunterste Schublade, Herr Politiker !

"Sie stehen nicht im Stau, Sie SIND der Stau !"

Daß die Freitagsdemonstranten nur allzugerne die Schule schwänzen, daß sie in ihrem eigenen Verhalten sehr widersprüchlich sind, daß ihnen die Lebenserfahrung fehlt, daß da andere Interessensgruppen sie manipulieren wollen, das sind alles Dinge die offensichtlich sind, und über die wir nicht zu reden brauchen. Geschenkt ! Das alles ist klar, und wir können darüber hinwegsehen oder auch nicht. Aber ändert das inhaltlich irgendetwas an dem Vorwurf und dem Fakt, daß wir seit Jahrzehnten das Klima ändern ? Egal, wie sehr wir den Boten schlagen, die Nachricht bleibt bestehen und in der Sache haben die Schüler halt recht. Und darum - nur darum: um den Inhalt - geht es ! Aber statt mal was zur Sache zu sagen, werden die jungen Kritiker diffamiert. Erbärmlich ! Schade um die Sendezeit, ich bin zornig ins Bett gegangen.

Und - um ausnahmsweise mal auf dem gleichen jämmerlichen Niveau dieses Politikers zu reagieren - stelle ich nun die Frage, wie widersprüchlich denn das Verhalten dieses Politikers in den letzten 50 Jahren gewesen ist. Wie oft ist er geflogen ? Wie oft ist er mit dem Auto gefahren oder hat (Atom?)Strom vergeudet ? Wie viele kleine und kleinste Tätigkeiten hat er in den letzten 50 Jahren zum Schaden des Klimas getätigt ? Angefangen beim Kauf von in Plastik eingepackten Lebensmitteln oder Kauf eines größeren Autos bis zur Kreuzfahrt oder Nutzung der EC-Karte ? Wie oft hat er aus Bequemlichkeit die umwelt- oder sozialschädlichere Alternative genommen ? Und etwas globaler: Wer hat die Welt denn zu der gemacht, in die die jungen Menschen jetzt hineingeboren wurden ? Das Schicksal oder der große Zampano ? Wenigstens dieser Politiker, der sich mit der nicht wahrgenommenen oder geleugneten Mitverantwortung seiner Elterngeneration im dritten Reich auseinandersetzen konnte, hätte wenigstens den Arsch in der Hose haben sollen und seine Eigenbeteiligung an den heutigen Kritikpunkten der Schüler eingestehen sollen. Stattdessen brilliert er mit Arroganz und Selbstgefälligkeit.

"Sie stehen nicht im Stau, Sie SIND der Stau !"

So sehr es mir stinkt: Die jungen Leute haben recht ! Und zwar auf der ganzen Linie ! Und sie haben alles Recht der Welt, sich zu beschweren ! Wenn diese Beschwerde stilistisch nicht so ganz unseren Vorstellungen entspricht, dann denken Sie bitte mal an Ihre eigene Jugend und Ihre damaligen Entgleisungen zurück. Ich bin sicher, da würden wir schnell fündig werden. In der Sache haben die Schüler trotzdem recht.

Und damit sind wir bei der nächsten Frage: Wer ist dafür verantwortlich ? Wer hat die Welt zu dem gemacht, was sie heute ist ? War meine Generation ein Vorbild ? Haben wir über unsere Verantwortung oder Bequemlichkeit diskutiert ? Haben wir aus unseren Erkenntnissen Konsequenzen gezogen ? Klar !!! Aber nur, solange es nicht die eigene Bequemlichkeit oder die eigenen Wünsche beeinträchtigte. Jeder verkündete, daß wir doch den Gürtel enger schnallen müßten und nestelte dabei am Gürtel des anderen herum. Alles jammert über schmelzende Polkappen und das möglichst auf dem Flug nach Malle oder Antalya (oder sonstwohin). Und jeder hat die besten Argumente, wenn es darum geht, sein eigenes, vielleicht nicht so ganz umweltfreundiches Vergnügen zu verteidigen. Und hat natürlich auch immer recht.

Dieser Mangel an Selbstreflektion und Inkonsequenz bringt uns nun den Vorwurf einer Jugend ein, die zu Recht über den Klimawandel beunruhigt ist. Da können wir zehnmal feststellen, daß es Jugendlichen heute so gut geht, wie nie zuvor. Das nehmen diese nicht wahr ( sie können das gar nicht wahrnehmen ) und schon gar nicht nimmt man ihnen mit solchen Sprüchen die Angst oder Sorge um die Zukunft. Ein wenig Ehrlichkeit vor uns selber, das wäre mal vorbildlich ! Ich als Jugendlicher habe übrigens früher ganz wenige "erwachsene" Menschen erlebt, die gesagt haben: Das war eine große Scheiße und ein Riesenfehler, den WIR !!! begangen haben (Damit war ihr verstehbares Schweigen während des Nationalsozialismus' gemeint). Diese Menschen haben sich ihrer Verantwortung gestellt, so schwer das ihnen auch fiel. Diese Menschen waren vorbildlich ! Auch für mich. Ich habe im Stillen den Hut gezogen vor so viel Mut, eigenes Versagen zu benennen. Gerade deshalb, weil die Mehrheit natürlich "nichts damit zu tun" hatte oder "sowieso immer dagegen" oder "davon nichts gewußt" hat und somit den mainstream bildete, gegen den diese mutigen Männer bestehen mußten. Nazischergen widmete man Straßennamen, die aktiven Widerständler oder einfach nur menschlich handelnden Menschen wurden ignoriert. Wer kannte Klibansky, Winton, Schindler, Grüninger, Heinrich Aschoff, (und viele tausend Menschen mehr) ? Diese Menschen habe ich bewundert und ernst genommen. Und denen hätte ich geglaubt. Die anderen, die Leugner, die Rationalisierer, die Kleinredner, die "mitdemFingeraufdieanderen-Zeiger" die habe ich verachtet. Ok, ich war jung, heute hätte ich statt Verachtung vielleicht Mitleid mit diesen Menschen, aber für voll nehmen könnte ich sie nie.

"Sie stehen nicht im Stau, Sie SIND der Stau !"

Die Erkenntnis, daß man selber Schuld ist an diesem Klimadesaster, daß man selber Täter, nicht Opfer ist, die ist äußerst unangenehm. Aber es ist für weitere Entscheidungen hilfreich, wenn man sich dieser Erkenntnis stellt. Und so ist auch der Spruch : Sie stehen nicht im Stau, Sie SIND der Stau ! zu verstehen. Die Erkenntnis, die Einsicht, daß nicht die anderen, sondern ich selber der Täter bin, die verhilft mir zu neuen Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Ob andere noch dabei beteiligt sind oder eine Rolle spielen, wird völlig unerheblich. Jeder Versuch, meine eigene Beteiligung zu relativieren, zwingt mich wieder in die Fehleinschätzung und macht mich unfrei.

"Sie stehen nicht im Stau - Sie SIND der Stau !"

Man könnte ja mal fragen: Wann ist der Stau nicht mehr da ? Wenn alle anderen nicht hier her(um)fahren wollen ? Da träumen Sie mal weiter. Denn die anderen denken genau das gleiche. Es scheint mir sehr unwahrscheinlich, daß "die anderen" alle auf ihre Fahrt verzichten würden, nur, damit SIE freie Bahn haben. Und "die anderen", das sind Sie ! Sie wollen, daß "die anderen" Platz machen, aber Sie selber wollen nicht das machen, was Sie von den anderen fordern, nämlich NICHT hierher zu fahren. Heben Sie die Trennung zwischen "Ich" und "die anderen" auf. Sie sind Bestandteil der "anderen". Es ist illusorisch, an freie Fahrt zu denken, solange Sie selber nicht beschließen, diese Strecke NICHT zu fahren. So lange Sie freie Fahrt erwarten, werden Sie im Stau stehen. Sie selber sind für Ihre Lage hier verantwortlich, denn Sie verursachen diesen Stau. Sie sind der Täter ! Sehen Sie sich nicht als Opfer dieser Umstände. Sie erleiden auch nicht die Folgen des Staus, sondern Sie selber verursachen diese Folge. Nochmal: Im Stau sind Sie der Täter, nicht das Opfer.


Wenn man sich umschaut, dann sieht man viele dieser selbstverschuldeten Situationen, deren Ursache man so gerne "den anderen" zuschreiben möchte. Vergessend oder leugnend, daß man selber der Verursacher ist. In mein Geschäft kamen viele ältere Leute, die vor 40 Jahren am Stadtrand ein Haus gebaut haben, Kinder großzogen und jetzt alleine und alt sind und sich selber versorgen müssen. Dieses Leid klagten sie mir regelmäßig. Dummerweise gibt es heute keinen Tante-Emma-Laden mehr um die Ecke. Es gibt nur noch große Lebensmittelmärkte, die zu weit weg sind, um sie fußläufig zu erreichen. Im Alter kann man nämlich nicht mehr Fahrrad fahren oder mit dem Auto. Diese Menschen haben sich vor 40 Jahren keine Gedanken gemacht, warum die Tante-Emma-Läden still und leise verschwanden. Aber sie jammern jetzt und beklagen sich über ihr Schicksal, daß sie es so weit zum Kaufladen hätten, und daß die Welt so böse zu Ihnen sei, und sehen sich selber als Opfer "der Entwicklung".

Das ist nur ein Beispiel von vielen und Sie haben sicherlich auch noch ein paar Beispiele parat, wo die nie vorausgeahnte "Belohnung" für bestimmte Gedankenlosigkeit erst nach vielen Jahren kommt. Es gibt tausend dieser Beispiele.

Wir beklagen, daß die Chinesen so "mächtig" geworden sind. Wer kauft denn die chinesischen Produkte ? Wir beklagen, daß die Innenstädte immer trostloser werden. Wer kauft denn im Internet ? Und, und, und ...

Diese Liste können wir nun beliebig verlängern. Das Prinzip bleibt das gleiche: Nicht irgendein Schicksal ist Verursacher, sondern Menschen. Und häufig wir selber, weil wir zu dieser Gattung "Mensch" gehören und fleißig mitmachen.

Und ich kenne auch die Ausreden, die dann kommen werden: "Alle sind schuld, aber ICH doch nicht ?" "Ich wollte das ja nie ! Ich war immer dagegen !"

Und alle Versuche, sich selber von persönlicher Schuld reinzuwaschen, laufen immer nach dem gleichen Drehbuch ab:

Das Problem wird geleugnet. Wenn das aufgrund der Faktenlage nicht mehr möglich ist:

Wird als Einzelfall behandelt. Wenn das aufgrund der Faktenlage nicht mehr möglich ist:

Wird relativiert. Wenn das aufgrund der Faktenlage nicht mehr möglich ist:

Wird die Schuldfrage mit: "das war nicht ich, sondern die anderen" beantwortet. Wenn das aufgrund der Faktenlage nicht mehr möglich ist:

Wird die Schuldfrage mit "das machen doch alle" "das hast Du doch auch gemacht" relativiert, was nichts an der persönlichen Verantwortung für das eigene Tun ändert : Eine schlechte Sache wird nicht besser, auch nicht, wenn sie ein zweiter macht. Wenn das aufgrund der Faktenlage nicht mehr möglich ist:

"Wenn ich es nicht mache, dann machen es die anderen trotzdem".

Was ist das für eine Logik ? Also nicht meine Moral sei maßgebend , sondern die Moral des mainstreams oder die Moral derer, die offensichlich falsch handeln ? Dann wären Kriegsverbrecher unschuldig, weil doch alle rundherum ebenfalls gemetzelt haben ? Jeder Mörder müßte freigesprochen werden, weil "andere das doch auch gemacht haben" ? Wie schon erwähnt: Eine schlechte Sache ist und bleibt schlecht, auch, wenn ein anderer die gleiche Sache macht. Sie wird dadurch nicht besser.

Außerdem könnte gerade diese letzte Ausrede doch ein Ansporn sein, klimaneutral zu werden: Alle Welt schaut auf die bekloppten Deutschen mit ihrer Umwelthysterie. Wenn es Deutschland gelänge, klimaneutral zu werden, dann hätten wir den Beweis erbracht, daß es geht. Das hätte erstens Vorbildcharakter und es gäbe sicherlich viele Nationen, die nun wissen möchten, wie wir das geschafft haben und die auch die entsprechenden Technologien von uns kaufen möchten. Wirtschaftlich wäre das ein nicht zu unterschätzender Vorteil für die BRD.

Und erlaubt sei die Frage, ob der/die, die sich gerade herausreden wollen, nicht selber genau dieser "andere" (= der nun die schlechte Sache macht) sind. Könnte man ja mal drüber nachdenken ...


Es gibt noch ein paar rethorische Techniken, vor dem Thema wegzulaufen:

Themenwechsel oder der Versuch, nötige Konsequenzen als überflüssig darzustellen, sind da beliebt: "Es wäre doch viel wichtiger, dies oder jenes zu machen, als daß ich für mein Fehlverhalten geradestehen soll." Nebenbei: Vernünftige Ideen, also auch Ihren Beitrag, sollte man umzusetzen und nicht mit "weniger wichtig" unterlassen, oder?


Oder Fatalismus: "Was ich als einzelne/r schon tun? Hat doch eh' keinen Sinn/Effekt". Wenn Sie einen Ozeandampfer betreten, sinkt er ein Stückchen tiefer ins Wasser, auch, wenn Sie es nicht merken, aber er tut es! Auch, wenn wir einen Effekt nicht bemerken, heißt das noch lange nicht, daß der Effekt "null" ist.



Fazit: Wir Menschen neigen wahrscheinlich dazu, uns selber immer in einem besseren Licht sehen zu wollen, als es wirklich ist. Wäre ja auch peinlich und frustrierend, wenn wir nicht die Superhelden sind, die wir gerne wären. Schon das Wissen um diese unsere Verhaltensweisen kann ja hilfreich sein.

Daher, liebe Schüler:

Laßt Euch nicht beirren ! Ihr habt Recht ! Die Vorgenerationen, also auch ich, haben da eine Riesendummheit und einen Riesenfehler gemacht, und ich hoffe, daß ich noch einen Beitrag zu einer Verbesserung leisten kann und die Folgen des Klimawandels ein wenig abmildern kann. Auch wenn ich ein gutes Gewissen hätte, weil ich doch so ein aktiver und überzeugter Umweltaktivist bin, würde mir das nicht helfen, denn die Fakten sagen mir ganz klar: Du hast nicht genug getan! Das reicht nicht! Das reicht noch lange nicht! Leider habe ich wenig Hoffnung, daß die Gesamtheit meiner Generation das auch so sieht.


So, nun können Sie, verehrte/r Leser/in, der Meinung sein, daß ich wieder mal Blödsinn schreibe. Das sei Ihnen unbenommen, wir sind ein freies Land und jeder, auch Sie, darf seine eigene Meinung haben und für diesen Fall bitte ich um Entschuldigung, daß ich hier und jetzt Ihre Zeit vergeudet habe.


Vielleicht sind Sie der Meinung, daß das nicht ganz falsch ist, was ich schreibe. Wirklich ?

Dann zählen Sie doch mal auf, für welche Mißstände Sie verantwortlich sind !

Und welche Konsequenzen dieser Erkenntnis folgen werden.

Denn irgendwann müssen Sie vielleicht mal die Frage beantworten: "Konnten Sie nicht oder wollten Sie nicht ?"




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